Visitenkarte und Eingangspforte einer sehr schönen historischen Stadt.
Vernachlässigtes Kulturdenkmal schreit nach Restauration und Nutzung.
Bau-, Kunst- und Kommerzprojekt.
1. Wie haben Sie vom Verkauf des Leisniger Bahnhofes erfahren?
Seit der Wende beobachte und studiere ich die Entwicklung in den Neuen Ländern, insbesondere den Arbeits- und Immobilienmarkt. Der Leisniger Bahnhof ist dabei aufgetaucht in den Katalogen der Grundstücksauktionäre und hat mein Interesse geweckt.
2. Warum ist das Gebäude für Sie so interessant?
Habe mich zwei Tage in Leisnig und Umgebung aufgehalten und spürte, dass hier eine menschlich besonders angenehme, kulturhistorisch interessante und wirtschaftlich gesunde Stimmung herrscht, die Anzeichen in sich birgt, prädestiniert für eine längst fällige Trendwende zu sein.
Der Bahnhof entspricht meinen ästhetischen und kulturellen Vorstellungen, insbesondere, was Grösse, Form, Historie/Alter, Lage und Gesamtausstrahlung anbetrifft. Er ist authentisch, original und weitestgehend vollständig erhalten, zumindest, was das Äussere anbetrifft.
Der Leisniger Bahnhof scheint mir zudem in besonderem Masse Visitenkarte und Eintrittspforte für eine traumhaft schöne Kleinstadt mit sehr vielen beachtlichen Kulturgütern zu sein. Wenn dies auch von der Öffentlichkeit allgemein so gesehen und anerkannt wird, hat er m.E. eine grosse Chance, zu einem der schönsten Bahnhöfe der Gegend, wenn nicht sogar Sachsens, entwickelt zu werden.
3. Welche ersten Bau- oder Sicherungsmaßnahmen sind aus Ihrer Sicht als Erstes notwendig für das Haus?
Schlüsselübergabe und Eigentumsübertragung werden erst stattfinden. Werde trotzdem in den nächsten Tagen das Gebäude genau anschauen und dann entscheiden, was die dringenden Sofortmassnahmen sein werden. Grundsätzlich muss der mangelnde Unterhalt der letzten Jahrzehnte aufgeholt, Ordnung geschaffen sowie Fenster und Eingänge gesäubert und repariert werden.
4. Welche Nutzung könnten Sie sich perspektivisch dafür vorstellen?
Ein Bahnhof wird immer ein öffentliches Gebäude bleiben und gehört in gewisser Weise auch immer der Allgemeinheit, die aber auch einen Teil der Verantwortung mittragen muss. Ich betrachte mich als Vermittler, Transmitter und Katalysator, der den Bahnhof zur kommerziellen und kulturellen Nutzung zur Verfügung stellt. Es wird sich zeigen, wer Chancen und Risiken dieser besonderen Geschäftslage ebenso optimistisch sieht wie ich. In prosperierenden Gegenden sind Bahnhöfe Toplagen. Ich möchte daran arbeiten, einen Prozess in Gang zu setzen, der die Öffentlichkeit mit dem Leisniger Bahnhof verbindet und einen Beitrag zur Trendwende, die in Leisnig m.E. bereits Einzug gehalten hat (habe Wild-Wild-East mit grossem Interesse vor dem Kauf gelesen), leisten wird. Wenn wir gemeinsam diesen Prozess erfolgreich gestalten, wird der Bahnhof Leisnig ein Kommerz-und Kulturprojekt von besonderer, hervorragender Qualität; andernfalls ist er zumindest vor weiterem Zerfall geschützt.
5. Wie ich höre, koordinieren Sie derzeit die Sanierung des Schlosses Radibor. Mit welchen Mitteln wenden Sie sich derartigen Sanierungsprojekten zu und wie weit ist Radibor biaher gediehen?
Schloss Radibor ist ein Kulturprojekt, das seit 2010 langfristig mit relativ bescheidenen Mitteln durchgeführt wird. Der weitere Zerfall konnte aufgehalten werden, die Zeiten der Vermüllung, Vandalisierung, Zerstörung und Plünderung sind vorbei. Die Mittel dazu müssen laufend von mir und meinen Firmen generiert werden. Schloss Radibor ist auf gutem Weg, ein Zentrum für Kunst, Wissenschaft, Gesundheit und Religion zu werden. Der dortige Bürgermeister hat einmal gesagt: "Die Menschen vor Ort haben Vertrauen gefasst und begriffen, was im Schloss Radibor geschieht." Besonders die Jugend von Radibor, aber auch viele ältere Menschen, beteiligen sich aktiv, verfolgen unsere Schritte ganz genau und sind zufrieden mit unserer Arbeit.
6. Wie schaffen Sie es, von Ihrem Standort in der Schweiz aua lokale Akteure vor Ort in Ihre Projekte einzubinden?
Wo auch immer, es kann nie die Arbeit eines Einzelnen sein, solche Projekte zu entwickeln und zu realisieren. Es braucht Glück und Erfahrung, die richtigen Menschen zu finden und zu motivieren, um ein tragfähiges Netzwerk aufzubauen. Leisnig scheint in dieser Hinsicht ein besonderes Potenzial zu haben. Ich durfte innert kürzester Zeit hoffnungsvolle Menschen treffen und zukunftsgerichtete Gespräche führen, die mich zur Überzeugung gebracht haben, dass der Bahnhof Leisnig zu einem erfolgreichem Kommerz-und Kulturprojekt belebt werden kann.
7. Darf ich nach Ihrem beruflichen Hintergrund fragen?
Ich bin als Bau-, Kunst- und Kulturunternehmer seit über 30 Jahren unterwegs...
Wenn Erwin Feurer vom Leisniger Bahnhof spricht, leuchten seine Augen, seine Begeisterung für das Gebäude ist unüberhörbar. Er unterstreicht sie mit ausladenden Gesten. „Ich bewege mich zwischen einfachstem Handwerker und großen Visionen", sagt der Schweizer. Am Montag hat er deswegen den Schrubber in die Hand genommen und eine Putzaktion gestartet. „Ich habe auch schon ein kleines Büro eingerichtet", erzählt er gestern.
Seit dem 7. Dezember gehört ihm das Bahnhofsgebäude. Er hat es bei einer Auktion für 8500 Euro erworben. Ein Schnäppchen. „Aber ich muss auch noch kräftig in die Restaurierung investieren", sagt der 62-Jährige. Vor einigen Jahren hat es im Warteraum gebrannt. Die Spuren sind noch sichtbar. „Der Zustand des Bahnhofs ist gesund und nicht so marode, wie man denkt", erzählt er. Aber es sei noch einiges daran zu arbeiten.
Nach dem ersten Putzen innen will der neue Besitzer das Außengelände auf Vordermann bringen. Es soll beräumt werden, damit „es wieder ansehnlich wird". Konkrete Pläne zur Nutzung des Gebäudes hat er allerdings noch nicht. Er sagt selbst, dass die Erwartungen, die wohl zahlreiche Leisniger nun an ihn haben, heruntergeschraubt werden sollten. Ihm geht es zunächst einmal darum, den Bahnhof vor dem Verfall zu bewahren.
Zurzeit ist er damit beschäftigt, sich ein Netzwerk vor Ort aufzubauen. Der Bahner Andreas Riethig und der Referent der Unteren Denkmalschutzbehörde des Landkreises Mittelsachsen Jörg Liebig gehören zum Beispiel bereits dazu. Seit dem Kauf steht er mit beiden in regen Kontakt. „Heute treffen wir uns das erste Mal persönlich", erzählt Eisenbahnfreund Riethig.
Erwin Feurer ist es wichtig, die Leisniger in seine Pläne einzubeziehen. „Ich möchte hören, fühlen, spüren, was hier geschehen ist und was die Menschen mit dem Bahnhof wollen", sagt der Schweizer Unternehmer. Er habe gespürt, dass in Leisnig ein großes Verlangen bestehe, den Bahnhof zu aktivieren. Ohne die Beteiligung und Mithilfe seitens der Öffentlichkeit könne er wenig ausrichten, betont er. Der Schweizer glaubt, dass er den Bahnhof nur durch Kommerz wiederbeleben kann. „Wenn es nach mir geht, würde ich gern ein reines Kunstprojekt aufziehen, aber das bringt kein Geld ein", erklärt Feurer. Er ist Realist. Aber auch ein Stück weit Visionär. „Wenn alles gut läuft, könnte Leisnig den schönsten Bahnhof Sachsens bekommen", sagt er – mit einem Augenzwinkern. Ein Bahnhof ist nämlich für ihn ein Aushängeschild für den öffentlichen Verkehr. Und zudem ein Treffpunkt für die Einheimischen. Mit dem Bahnhofsgebäude würden viele Bewohner besondere Erinnerungen verbinden. Auch deswegen sei es wichtig, das Bahnhofsgebäude zu erhalten und wieder zu beleben.
Fast noch ein wenig mehr liegt ihm aber der Erhalt der Bausubstanz am Herzen. Die Architektur des Bahnhofs habe etwas Neogotisches. Nicht zuletzt aufgrund der Bogenarkaden über dem Portal. „Für mich ist Bahnhof so etwas wie eine große Antiquität", sagt Erwin Feurer.
Dass eine Instandsetzung dem Bahnhof guttun würde, zeigt der aktuelle Zustand des Gebäudes, an dem der Vandalismus seine Spuren hinterlassen hat: Der Putz bröckelt, die Fassade ist schmutzig, so gut wie jede Öffnung ist zugenagelt, Glasscheiben gibt es fast keine mehr, Fenstern und Türen sind mit Plakaten beklebt.
Feurer ist sich darüber im Klaren, dass die Lage des Leisniger Bahnhofs nicht gerade günstig ist. Er befindet sich weit weg vom Zentrum. Aber die Stadt hat eine Infrastruktur geschaffen, die das Ganze wieder relativiere. Der Vorplatz war von der Stadt ansprechend gestaltet worden. Zwischen dem Bahnhof und dem Marktplatz fahren regelmäßig Busse.
Erst im vergangenen Jahr hatte sich ein anderer Bahnhofssanierer die Zähne an dem Leisniger Objekt ausgebissen. Christian Skrodzki aus dem Allgäu hatte das Gebäude zum Bürgerbahnhof umgestalten wollen. Schließlich hat er in seiner Heimatstadt Leutkirch ein solches Projekt erfolgreich realisieren können. Beim Vororttermin zeigte er sich jedoch entsetzt über den Zustand. Er gab sein Engagement auf.
Erwin Feurer ist sich darüber im Klaren, dass ein Bürgerbahnhof wie in Leutkirch, an dem sich die Anwohner auch finanziell beteiligen, in Leisnig wohl nicht realisierbar ist: „Jeder Bahnhof ist individuell, man muss auf die Begebenheit vor Ort achten." Dennoch hält er an seinem Ziel, den Bahnhof zu reaktivieren, fest. Er möchte auch Arbeitsplätze schaffen.
Wie die DAZ bereits berichtete, erwarb der Schweizer Bauunternehmer Erwin Feurer das Gebäude. Nach Sachsen nahm er schon Kontakt auf - zu Menschen, die sich mit dem Denkmalschutz im Allgemeinen und mit der Bahn und Bahnhöfen auskennen.
Dass es so schnell gehen würde, konnte Andreas Riethig kaum fassen. Ihn freut es, "dass der Bahnhof dann hoffentlich nicht mehr dem Verfall preisgegeben wird", wie der Eisenbahnaktivist gegenüber DAZ sagt. Im Bahnhofsgebäude von Klosterbuch betreibt Riethig unterm Dach des Vereins "Begreifen" das dortige Bahnhofsmuseum. Es öffnet regelmäßig an den Wochenenden mit dem Klosterbucher Bauernmarkt. Zu Riethig hatte Feurer bereits kurz nach dem Kauf Kontakt aufgenommen, und zwar auf Empfehlung von Jörg Liebig von der Unteren Denkmalschutzbehörde beim Landkreis Mittelsachsen. "Ein erstes Treffen in Leisnig war für den Dezember geplant. Es musste wegen eines Verkehrsunfalls, den Feurer noch in der Schweiz hatte, jedoch aufgeschoben werden", sagt Riethig. Feurer hatte unter anderem Baumaterial transportiert für das Sanierungsprojekt Schloss Radibor bei Bautzen, muss den Transport jetzt mit neuem Fahrzeug neu organisieren. Vom Kontakt mit dem Bauherren verspricht sich Riethig nicht allein für den Bahnhof in Leisnig, sondern auch für den in Klosterbuch einige Belebungs-Chancen. Als Akteur vor Ort fungiert Riethig als Ansprechpartner für den Schweizer Bauunternehmer, mit dem er in Kontakt vorwiegend per Email steht. "Herrn Feurer geht es bezüglich des Leisniger Bahnhofs besonders darum, dass die architektonische Charakteristik erhalten bleibt", sagt Riethig und ist froh, in dem Schweizer einen Mann mit Herz für die Bahn gefunden zu haben. Er stelle ihm schriftliches Material zur Geschichte der Bahnhauptstrecke Borsdorf-Coswig zur Verfügung. Ein Buch dazu veröffentlichte Riethig 2009 mit dem Autoren Peter Wunderwald. "Der Bahnhof Leisnig ist ein Bahnhof dieser Strecke und wird in dem Buch ausführlich beschrieben. Ich habe auch noch einen Fahrplan, als noch der Zug aus Leipzig kommend in Leisnig endete und die Weiterfahrt mit Postkutschen erfolgte."
Ein heimlicher Wunsch von Andreas Riethig wäre sogar, zwischen Leisnig und Klosterbuch wieder eine kleine Rangierlok fahren zu lassen, wie sie jahrzehntelang fünfmal täglich die Bedarfsübergabefahrten für den Güterverkehr zwischen Leisnig und Klosterbuch erledigte. Der Bahnfotograf und Buchautor Wolfgang Löckel, seines Zeichens Botschafter der Stiftung Deutsche Bahnen, könne sogar den Kontakt vermitteln zu jemandem, der so eine kleine Dampflok Modell KÖ zur Verfügung stellen könnte. Eins der nächsten Wunschprojekte von Riethig sei, diese Lok zunächst in Klosterbuch aufzustellen, auf eigenen Gleisen, mit Andreaskreuz und Postentafel vom Klosterbucher Postenhäuschen an der jetzigen Schranke. "Der Clou wäre, die Lok wieder zu touristischen Zwecken zwischen den Bahnhöfen Leisnig und Klosterbuch fahren zu lassen - mit ein paar Wagen für den Personenverkehr." Doch jenseits dieser Blütenträume, die sich Riethig selbst auch mit einem Augenzwinkern gestattet, stehe der Erhalt des Bahnhofsgebäudes in Leisnig derzeit ganz oben auf der Agenda.
Die Com Media Vision AG und der International Burnout Fund aus der Schweiz, beide vertreten durch Erwin Feurer, haben am 7. Dezember 2013 das Kulturdenkmal Bahnhof Leisnig an der Auktion in Berlin zugeschlagen erhalten.
(Von der Unteren Denkmalschutzbehörde Landkreis Mittelsachsen freundlicherweise zur Verfügung gestellt)
Die Eigentumsübertragung hat zwischenzeitlich stattgefunden und es sind ernsthafte Bestrebungen im Gange, das Kulturdenkmal zu sichern sowie im Rahmen einer sinnvollen Nutzung zu restaurieren.
Erste unfrisierte, ungeschminkte Bestandsaufnahme des Leisniger Bahnhofs vom 6. Januar 2014.
Initiierung eines Prozesses.
Ouverture zu einem waghalsigen Projekt.
Inbesitznahme eines Bahnhofs mit besonderen Sinnen und „anderen Augen“.
Auslegeordnung und Bestandsaufnahme der Interessen und Zielsetzungen aller Beteiligten aus allen Gesellschaftsschichten.
Feinste, filigran ausgestaltete und historisch verankerte
Bahnhofsarchitektur versus Lebens- und Gestaltungsmanifestationen Ausgegrenzter, Vergessener und Überflüssiger.
Reale und fiktive Gegenüberstellung von Street Art mit den Vorstellungen einer ehrwürdigen und ordentlichen Gesellschaft. Beobachten, Wahrnehmen, Einfühlen, Verstehen, und Begreifen
unterschiedlicher Lebensformen und -einstellungen.
Würdigung und Anerkennung einer Ästhetik der Outsiderkunst.
Feststellung und Bündelung unterschiedlichster Interessen und Zielsetzungen.
Interaktives, fragmentarisches, veränder- und... Mehr > beeinflussbares Kommerz-, Kunst,- Kultur- und Sozialprojekt.< Weniger
Die Ursprünge der Stadt Leisnig stehen in engem Zusammenhang zur im 10.
Jahrhundert errichteten Burg Mildenstein. Die Burg gehört zu den ältesten
Anlagen in Sachsen. Die erste urkundliche Erwähnung des zugehörigen Burgwards
erfolgte 1046 als „Lisnich“.
Das historisch hochinteressante und spannende Städtchen mit rund 10‘000
Einwohnern hat durch die Umsetzung von Visionen und Utopien den Aufbruch in
eine hoffnungsvolle Zukunft geschafft, präsentiert sich dem Besucher in einer
weltoffenen und zuvorkommenden Art und Weise und hat sehr viel zu bieten. Der
Bahnhof Leisnig scheint trotz derzeit verfallenem Zustand prädestiniert zu sein
als eines unter zahlreichen wertvollsten Baudenkmälern zu einem der schönsten
Bahnhöfe Sachsens verwandelt werden zu können. Es erstaunt schon, dass dem
selbst in diesem maroden Zustand sich befindenden außergewöhnlichen Kulturgut
aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr liebevolle Beachtung und
Wertschätzung entgegengebracht undgeschenkt wurde.Dabei könnte er
durchaus ein Bindeglied zur Burg Mildenstein, einer der attraktivsten
frühmittelalterlichen Burganlagen, darstellen, da er
Im Rahmen des Baus der Bahnstrecke Borsdorf–Coswig als zweite
Eisenbahnlinie zwischen Leipzig und Dresden erhielt Leisnig 1867 den Anschluss
ans Eisenbahnnetz. Der im Muldental südöstlich der Altstadt gelegene Bahnhof
markierte einen neuen Fixpunkt der Stadtentwicklung. Im Umfeld des Bahnhofes
(Bahnhofsvorstadt) siedelten sich in den folgenden Jahrzehnten weitere Fabriken
an. Die Einwohnerzahl stieg bis 1910 nochmals auf 8.001 Einwohner an.
Vorderhand einige
Eindrücke des Bahnhofs. Er ist gebaut im neugotischen Stil, was ihn ganz
besonders hervorhebt. Die
Neugotik zählt zu den frühesten stilistischen Unterarten des Historismus, der
auf Kunst- und Architekturstile der vorausgegangenen zwei Jahrtausende
zurückgriff. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts wurde im Historismus
der frühe Tudorstil in eklektizistischer Form wieder aufgegriffen und
fand später auch in den ehemaligen britischen Kolonien und auf dem europäischen
Festland Verbreitung. Hotels
und Bahnhöfe,
aber auch private Wohngebäude wurden in diesem Neu-Tudorstil errichtet.
Im Englischen wird dieser als Tudor revival oder mock Tudor
bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist der Bahnhof Wrocław Główny in Breslau.
Im Mittelpunkt der Verbreitung der Neugotik stand ein umfassendes Bau- und
Einrichtungsprogramm, das bis in die Literatur und den Lebensstil Einzug hielt.
Die Formensprache
der Neugotik orientierte sich an einem idealisierten Mittelalterbild. Ihre
Blüte hatte sie in der Zeit von 1830 bis 1900. Unter der Auffassung, an
Freiheit und Geisteskultur mittelalterlicher Städte anzuknüpfen, errichtete man
in neugotischem Stil vor allem Kirchen, Parlamente, Rathäuser und
Universitäten, aber auch andere öffentliche Bauten wie Postämter, Schulen oder Bahnhöfe.
Nach Erwin Panofsky war das Gothic Revival von einer
romantischen Sehnsucht nach einer nicht mehr zurückzuholenden Vergangenheit
geprägt, wohingegen die Renaissance danach getrachtet habe, aus dem
Alten eine neue Zukunft abzugewinnen.
Das Nauener Tor in Potsdam
(1755), das Friedrich der Große auf britische Anregung
errichten ließ, war das erste neugotische Bauwerk in Deutschland. Mit der
Unterstützung von Friedrich dem Großen erhielt die Neugotik eine nationale
Ausrichtung, da man sich in einer Verbundenheit mit dem mittelalterlichen
Kaiserreich sah. Insbesondere bei den damaligen Parkbauten setzte sich die
Stilrichtung durch, wie beispielsweise das Gotische Haus im Wörlitzer
Park (1786/87), oder die Löwenburg im Bergpark Wilhelmshöhe. Sie entstand nach
Entwürfen von Heinrich Christoph Jussow in der Zeit von
1793 bis 1800 als Nachahmung einer mittelalterlichen englischen Ritterburg.
Für die Gotik-Rezeption in Deutschland ist Johann Wolfgang von Goethes 1773
veröffentlichter Aufsatz „Von Deutscher Baukunst“ von besonderer
Bedeutung. Goethe beschrieb den deutschen Baumeister Erwin von Steinbach als angeblich alleinigen
Erbauer des Straßburger Münsters sowie als Genie und weckte
schwärmerische Begeisterung für die damals noch weitgehend verachtete gotische Architektur, die
nun als deutsche Baukunst verstanden und positiv bewertet wurde. Dass die
gotische Baukunst historisch aus Frankreich stammte, war Goethe nicht bekannt.
In der Folgezeit wurde die französische Herkunft von nationalistischen
Anhängern einer vermeintlich „deutschen“ Gotik jahrzehntelang bestritten oder
auch ignoriert.
Die Romantik
zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte in Deutschland zu einer Begeisterung für
die mittelalterlichen Bauwerke, insbesondere für die großen Dome der Gotik und
die Burgen. Wichtige Zeugnisse hierfür sind Friedrich Schlegels Aufsatz Grundzüge der
gotischen Baukunst, oder auch die romantischen Landschaften von Caspar David Friedrich, Carl Gustav
Carus, Julius von Leypold und dem vor allem als Architekt
des Klassizismus bekannten Karl Friedrich Schinkel. Im Zuge dieser
neuen Mode konnten auch alte Bauruinen wie der Kölner Dom
(Wiederaufnahme des Baus 1846) oder das Ulmer Münster
(Fertigstellung des Westturmes 1890) nach den Plänen des Mittelalters vollendet
werden. Andere gotische Kirchen wurden purifiziert, das heißt, von
nachträglichen Änderungen nachfolgender Stilepochen befreit, vervollständigt
und von vermeintlichen Fehlern bereinigt. Die Vollendungen verwendeten die
originalen Baupläne, es sind also aus kunsthistorischer Sicht noch (zum
überwiegenden Teil) Bauwerke der mittelalterlichen Gotik.
Für neue Kirchen- und Profanbauten in den wachsenden Städten griff man
gerne auf die gotische Architektur zurück und komponierte mit Formelementen aus
dem reichen Erbe vorhandener Bauwerke eine neue idealisierte Architektur, die
Neugotik. Allerdings fehlte aufgrund der großen zeitlichen Distanz das tiefe
Verständnis für die Formensprache und so finden sich Formen des
Kirchenbaus an neugotischen Rathäusern wieder. Herausragende Beispiele für
neugotische Profanbauten sind die Rathäuser in Wien, München
und dem Berliner Bezirk Köpenick sowie das einzigartige Ensemble
der Speicherstadt
in Hamburg.
Für die Innenausstattung, insbesondere Altäre und Kanzeln der
neuen und purifizierten Kirchen schuf man aufwändig geschnitzte Werke, die sich
an die Elemente der Architektur anlehnen, aber ohne Vorbild waren. Diese Werke
nannte man später abwertend Schreinergotik. Die Glasmalerei erlebte
ebenfalls eine neue Blüte, allerdings sind die neuen Werke realistischer und
naturalistischer als die historischen Vorbilder. Viele derartige
Ausstattungsgegenstände der Kirchen sind ab 1960 aus Verachtung für die
nachgemachten Stile wieder entfernt und zerstört worden.
Die neue Stilrichtung erfasste auch das Friedhofswesen. So gilt zum
Beispiel als erstes neugotisches Kunstwerk auf einem bayerischen Friedhof das
von Friedrich von Gärtner geschaffene und am
1. November 1831 enthüllte Denkmal am Massengrab der Sendlinger Mordweihnacht auf dem Alten Südlichen Friedhof in München.[2]
Im Zweiten Weltkrieg waren neugotische Bauten
besonders im deutschen Sprachraum massiven Zerstörungen ausgesetzt. Fast alle
bedeutenden neugotischen Kathedralen blieben jedoch vom Zusammensturz
verschont, auch wenn die Dachstühle vielerorts ausbrannten. Eine Ausnahme
bildet hier die Nikolaikirche in Hamburg,
deren Schiffe nach den verheerenden Bombenangriffen der „Operation Gomorrha“ im Sommer 1943 zwar noch
standen, deren Ruine aber 1951 trotz Bürgerprotesten abgebrochen wurde. Nur der
Turm ragt heute noch 147 Meter hoch aus dem Häusermeer (das Ulmer Münster
ist nur 14 Meter höher). Er lässt die Größe der zerstörten Kirche erahnen, die
sicherlich als eine der größten und prächtigsten gelten kann, die allein im
Stil der Neugotik (ohne Teilstücke aus dem Mittelalter) erbaut worden sind.
Die Begeisterung für gotische Formen ließ im stark nationalistisch
geprägten Deutschland des zweiten Kaiserreiches wieder nach, nachdem immer
offensichtlicher wurde dass die Gotik nicht ein typisch deutscher Stil ist,
sondern historisch aus Frankreich stammt. Den gesuchten, typisch deutschen Stil
glaubte man in der Romanik gefunden zu haben, worauf sich der Schwerpunkt auf
romanische Formen verlagerte und die Neuromanik
ihre Blüte erlebte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es in Nürnberg
als lokale Besonderheit eine besondere Ausprägung der Neugotik, den Nürnberger
Stil, der an die hoch- und spätgotische Bautradition der Stadt
anzuknüpfen versuchte. Zu den letzten Beispielen in Deutschland gehört die 1906
geweihte Paulskirche in München
von Georg von Hauberrisser. Auch die
Martinus-Kirche in Olpe
(geweiht 1909) ist im neugotischen Stil erbaut.